Schwenkt das voreilende Blatt nach vorne oder hinten?

W_Else
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#31 Re: Schwenkt das voreilende Blatt nach vorne oder hinten?

Beitrag von W_Else »

Hallo Andi,
erst mal vielen Dank für deine Antwort, die mich allerdings noch nicht ganz befriedigt. Dazu werde ich weiter unten meine Frage etwas anders stellen.

Den Reichert kannte ich gut, er war damals mein Bereichsleiter als ich 1977 bei MBB anfing.
Die Formel zur Ableitung des Phasenwinkels in Abhängigkiet des Schlaggelenksabstands kenn ich aus einem Flugmechanik Vorlesungsskript von U. Butter. Deshalb ist die Erklärung des Phasenwinkels mit Hilfe des Fliehkraftpendels für mich auch die (vielleicht falsche?) Erklärung des Phasenwinkels.

Nochmals zurück zum Kreisel- oder Nicht-Kreiselverhalten eines Rotors: Wie würde sich ein Rotor im Stand bei exakt Null Grad zyklisch und festgenagelter Taumelscheibe verhalten wenn der Mast aus seiner senkrechten Position "nach vorne" gekippt wird?
- Hätte er die Tendenz zur Seite zu kippen (Kreiseleffekt)?
- Hätte er die Tendenz eine Nutationsbewegung auszuführen?
- Würde dabei der Rotorschub (Konuswinkel) eine Rolle spielen?
- Wie wär das Verhalten im luftleeren Raum?
- Wie würde sich im gleichen Fall ein starrer Propeller verhalten?

Viele Fragen, aber das Ganze ist wirklich sehr komplex und der "große Flugmechaniker" war ich leider nie.

Grüße
Walter
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acanthurus
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#32 Re: Schwenkt das voreilende Blatt nach vorne oder hinten?

Beitrag von acanthurus »

Hallo, Walter.

ich sehe, bei dir kann ich mehr voraussetzen als beim Durchschnittsmodellhelikutscher ;) 1977 wartete ich geduldig auf meine Einschulung.
Da kann es dann nicht lange dauern, bis du mich an meine Grenzen bringst. Deine Fragen gehen schon recht tief in die Materie ein, und bei mir ist es auch schon ein paar Tage her, dass ich mich damit auseinandergesetzt habe, zudem eher auf anderen Schwerpunkten (ursprünglich war ich eher in der CFD beheimatet und bin so nebenbei da reingerutscht)

zu deinen Fragen
F: Hätte er die Tendenz zur Seite zu kippen (Kreiseleffekt)?
A: Ein Resonanzrotor nicht (da das Kippmoment gar nicht am Rotor ankommen könnte - wodurch sollte es denn übertragen werden? ) ein "steifer" Rotor hätte je nach Federsteifigkeit und Schlaggelenksabstand aber schon eine solche Tendenz - allerdings eben deutlich geringer als bei einem starren Kreisel.
In der Praxis müsste man jetzt noch sicherstellen, dass die Schlagbewegung nicht auf den Einstellwinkel einstreut (Delta-3-Kopplung), denn sonst wäre die Bedingung der festen Taumelscheibe nicht einzuhalten.


F Hätte er die Tendenz eine Nutationsbewegung auszuführen?
A: Im Resonanzfall wiederum nein, bei steiferem Rotor im Prinzip ja, allerdings würde die Nutationsbewegung von der aerodynamischen Dämpfung sehr schnell weggedämpft werden. Es kommt auch etwas darauf an wie das Kippmanöver aussieht - die meisten Angaben, die ich hier mache, beziehen sich auf ein quasi-stationär aufgebrachtes Nickmoment auf den Rotormast. ich habe dieses Experiment mal umgekehrt ausgeführt: plötzliches Aufbringen eines zyklischen Einstellwinkels, und Beobachtung der Schlagbewegung - s. Anhang. Man erhält einen ganz klassischen, gedämpften Einschwingvorgang, bei dem sich allmählich die "richtige" Phase und Amplitude einstellt. Allerdings war bei der Messung der Rotormast nicht völlig starr. Leider habe ich das Diagramm nicht phasengenau vorliegen.

F: Würde dabei der Rotorschub (Konuswinkel) eine Rolle spielen?
A: Beim Resonanzrotor nicht, wobei ein echter Resonanzrotor ein (wie üblich) hochgesetztes Schlaggelenk haben müsste, um bei reichlich Konuswinkel überhaupt ein solcher zu bleiben. Ansonsten bleibt die Frage, ob das reine Kippen der Rotorachse nicht auch auf höhe des Kopfes eine horizontale translatorische bewegung mit sich bringen würde. Diese würde wohl (generell) auch eine nick- bzw. eine roll-nick-Anregung mitbrigen können. Da müsste ich aber mal ausführlicher drüber nachdenken, das kam so noch nie dran ;)

F: Wie wär das Verhalten im luftleeren Raum?
A: Seitenkippen wie im Fall in Luft. Nutation beim nicht-resonanz-rotor stärker vorhanden, da keine aerodynamische Dämpfung mehr vorliegt. Konuswinkel... kein Schub, is klar.

F: Wie würde sich im gleichen Fall ein starrer Propeller verhalten?
A: kräftiges Seitwärtskippen, die volle Präzessionswirkung würde durchschlagen. Die Nutationsfrage ist spannend, da man hier mal quantitativ betrachten müsste, in welchen Größenordnungen sich Kreiselmomente und aerodynamische Dämpfung ergeben. Ich gehe aber auch hier von einer sehr starken aerodynamischen Dämpfung aus.
Im Vakkum? keine aerodynamische Dämpfung, reichlich Präzession

Ich würde aber dennoch, obwohl wir hier viel "Kreisel-Talk" machen, lieber das Fliehkraftpendel als Basismodell für Erklärungsversuche machen, es bringt die Sachen einfach besser rüber, und "Kreiseleffekte" wird allzugern als synonym für "hab ich nicht wirklich kapiert, muss aber so sein" herangezogen.

P.S. hab grad mal deine Tätigkeit im Benutzerprofil nachgelesen... hatte u.A. schon 1-2 mal mit dem Herrn Mohr bei euch zu tun, Thema Cabin Operator Harness, Abseilen, Y-Rope etc.

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W_Else
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#33 Re: Schwenkt das voreilende Blatt nach vorne oder hinten?

Beitrag von W_Else »

Hallo Andi,
Super! vielen Dank für deine Antworten.
Dass keine Delta3 Einsteuerung stattfinden darf ist natürlich klar.
Deine Antworten bestärken mich in meiner Meinung, dass die Phasenverschiebung mit dem Fliehkraftpendel besser zu erklären ist, weil allgemein gültiger, als mit Kreiseleffekten.

Grüße
Walter
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acanthurus
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#34 Re: Schwenkt das voreilende Blatt nach vorne oder hinten?

Beitrag von acanthurus »

Hi..

Na ja, auch die Kreiselgleichungen gibt es in einer "elastischen" Variante. Diese ist aber imho viel komplizierter als eine gedämpfte Schwingung in unterresonanter Anregung. Zudem völlig unintuitiv, man verrenkt sich die Flossen mit Rechte-Hand-Regeln usw. nur um die ReaktionsRICHTUNG qualitativ rauszubekommen.

gruß
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W_Else
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#35 Re: Schwenkt das voreilende Blatt nach vorne oder hinten?

Beitrag von W_Else »

acanthurus hat geschrieben:A: Ein Resonanzrotor nicht (da das Kippmoment gar nicht am Rotor ankommen könnte - wodurch sollte es denn übertragen werden? ) ein "steifer" Rotor hätte je nach Federsteifigkeit und Schlaggelenksabstand aber schon eine solche Tendenz - allerdings eben deutlich geringer als bei einem starren Kreisel.
Hallo Andi,
ich glaube schon, dass sich die Rotorkreisebene in dem Fall auf Grund der Fliehkraft immer rechtwinklig zur Drehachse ausrichten würde. Das Kippen würde dann also schon am Rotor ankommen.
Was wäre dann?

Grüße
Walter
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acanthurus
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#36 Re: Schwenkt das voreilende Blatt nach vorne oder hinten?

Beitrag von acanthurus »

Hallo, Walter.
In der Praxis hast du natürlich recht. Von der theoretischen Modellierung her muss man jedoch genau unterscheiden, welche Freiheitsgrade man wirklich zulässt und welche unterdrückt sind. Da deine Ursprungsfrage aber zunächst als ein ideal-Zustand formuliert war, habe ich das auch als solchen behandelt.

Hat man ein IDEALES, reibungsfreies Schlaggelenk in Resonanz sowie eine PERFEKTE Unterdrückung der Schwenkbewegung, so würde das theoretische Ergebnis lauten, dass die Rotorebene ihre Lage beibehält und nicht der Rotorachse folgt. In diesem Fall hätte man allerdings (als Folge der Projektion der Rotationsrichtung auf die neue Rotorachse) eine periodische Schwankung in der Winkelgeschwindigkeit (bzw. des Drehmomentes, je nachdem was man als parameter "festhält"). Über die Aerodynamik könnte diese Torque-Schwankung wieder in die Roll-Nick-Lage einstreuen, aber darüber müsste ich wirklich mal mit Papier und Bleistift nachdenken, das schaff ich nicht mehr ohne 80-gramm-holzfrei-Computer :oops:

In der Realität genügt ein (prinzipiell beliebig kleines) Reibmoment im Schlaggelenk oder eine beliebig kleine Nachgiebigkeit in der Schwenkrichtung, damit die Blattebene allmählich der Rotorachse folgt. Bei nem (full size) Jetranger dauert dieser Prozess durchaus im zweistelligen Sekundenbereich (mal bei einer Hanglandung beobachtet).
Im Vakuum geht dieser Prozess schneller, da die aerodynamische Dämpfung des Rotors wegfällt.
Je nach ART der Reibung im Gelenk (Viskose Reibung, Coulomb´sche Reibung) sowie der evtl. noch vorhandenen Einstreuung über die Aerodynamik (s.o., ungeklärt) können dabei sogar noch Phasenänderungen auftreten, d.h. die Rotorebene folgt nicht einfach allmählich in Achsrichtung, sondern tut dies ggf. über einen kleinen Roll-Umweg.
In dem Fall wird über die Lagerreibung ein präzessionsmoment aufgebracht. Dieses ist allerdings sehr klein (man bedenke: Präzessionsmoment*Einwirkzeit=Drehimpulsvektoränderung) und entspricht natürlich (exakt, wg. Drehimpulserhaltung) der (über eine volle Umdrehung effektivwertgemittelten) Lagerreibung.

Dies ist die interpretation aus den Kreiselbetrachtungen. Machen wir das ganze wieder aus Sicht des "schwingenden Rotorblattes", so wird das ausnahmsweise mal schwieriger - und zwar weil die Null-Lage unseres Fliehkraftpendels wegen der Eingangs erwähnten Winkelgeschwindigkeitsschwankung (also Folge der Projektion des Drehvektors auf die "neue" Achse) einen Anteil aus der Euler-Beschleunigung erhält. Den rechnerischen Beweis, dass sich diese aber bei idealen Auflagerbedingungen genau so raushebt dass die "neue" Fliehkraftmittellage der "alten" entspricht muss ich dir aber im Moment schuldig bleiben... dazu würde ich nicht nur den 80-gr-holzfrei-Computer benötigen, sondern auch ein holzfreies Datenbank-Plugin (Technische-Mechanik-Skript, Prof. R. Eppler, stark angegilbt, handkolorierte Ausgabe von 1992) :mrgreen:

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#37 Re: Schwenkt das voreilende Blatt nach vorne oder hinten?

Beitrag von friedersta »

Wer es gut verständlich (mit Zeichnungen) und nicht ganz so kompliziert haben will, sollte ein Buch von meinem Hubi-Lehrer lesen:

Helmut Mauch: Kleine Hubschrauberschule (ISBN 978-3-934596-26-9)

Das ist so in etwa der theoretische Stoff, den man für die Theorieprüfung im Fach Aerodynamik für die PPL-H braucht, un sogar ich hab das dann alles verstanden. :bigsmurf:

friedersta
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acanthurus
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#38 Re: Schwenkt das voreilende Blatt nach vorne oder hinten?

Beitrag von acanthurus »

@friedersta:

Den Mauch habe ich leider selbst nicht zur Hand. Geht der ein wenig in die Tiefe, was die rotordynamische Seite angeht? In den verständlicheren Büchern wird das meist nur flach angeschnitten, das ist der Grund, warum wir sie hier so ausführlich durchkauen - in dieser sehr eng definierten Fragestellung wirst du ganz schön wühlen müssen, um das aus der komplizierten Fachliteratur so herauszuarbeiten.
Wo wir grade bei Literatur sind: Auch die "Basic helicopter Aerodynamics" von J. Seddon halte ich für erwähnenswert, und auch wenigstens auszugsweise für den Einsteiger verdaubar. Das schöne daran: man findet das als PDF auch im internet, z.B. hier:

http://www.rapidshare.com/files/2674467 ... namics.pdf

Das befasst sich jedoch fast ausschließlich mit der aerodynamischen Seite, detaillierte Dinge, wie in diesem Thread, zur Schwenkbewegung wird man dort kaum finden. Für die Aerodynamik ist es noch lange nicht so heftig wie z.B. ein Johnson (Helicopter Theory) oder der Stepniewsky/Keys (rotary wing aerodynamics), den beiden "Standardwerken" der Hubschrauberaerodynamik.
Im Deutschen dürfte der Bittner (Flugmechanik der Hubschrauber) recht verbreitet (und somit per Fernleihe verfügbar) sein. Dort befasst sich das Kapitel 6 mit der Schwenkbewegung - allerdings imho etwas knapp.

gruß
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#39 Re: Schwenkt das voreilende Blatt nach vorne oder hinten?

Beitrag von speedy »

Hmm, also ehrlich gesagt hab ich bei jedem Posting von Andi immer schon nach jedem Absatz abgschaltet, weil ich dann so und so nicht mehr kapiert habe, worum es in dem Absatz ging - um dann beim nächsten Absatz mit neuer Hoffnung weiterzulesen. :mrgreen:

Was mir aber bei den ganzen Erklärungen durch den Kopf geht - wie wärs, wenn du das auch am Wiki festhältst ? Der Thread ist irgendwann verschwunden.

Aber wär schön, wenn du das dann eventuell mit paar Bildern als Erklärung machen könntest bzw. vielleicht noch ein wenig mehr in der Art:
Peter F. hat geschrieben:Vielleicht kapier´ich irgendwann auch mal, warum eine Hummel doch fliegen kann.
acanthurus hat geschrieben:Die fliegt auch nur, weil sie MUSS.
Das hab ich auch kapiert. :mrgreen:


MFG
speedy
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acanthurus
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#40 Re: Schwenkt das voreilende Blatt nach vorne oder hinten?

Beitrag von acanthurus »

Hallo, Speedy.

Mir ist durchaus bewusst dass ich die meisten Leute damit überfordere. Das ist leider in Anbetracht der Komplexität dieser Dinge kaum zu vermeiden, solange man nicht derart stark vereinfachen will dass letztendlich nur eine "bequeme Lüge" übrigbleibt.

Andererseits sind diese Inhalte auch für "Anwender" höchsten modellfliegerischen Niveaus nicht relevant - egal ob das 3d-Cracks oder Turbinenmechanik-Selbstbauer sind. Es gibt einige wenige Leute, die gerne solche Sachen diskutieren - aber eigentlich immer nur aus persönlichem Interesse und nicht weil die Frage irgendwie wirklich wichtig wäre.
Insofern wäre es sicherlich Overkill, sowas in den Wiki zu packen - die Aufforderung dazu kam schon mehrfach - denn dieser sollte imho gut lesbar sein und nicht mit praxisirrelevantem Basiswissen vollgestopft werden. Was anderes wäre ein schönes kleines Büchlein oder ne eigene Web(unter)seite dazu. Das "Problem" dabei ist, dass viele der komplexeren Fragestellungen, wie hier auch geschehen, erst interaktiv herausgearbeitet werden können. Ich habe inzwischen einige dutzend derartigert Postings geschrieben, und wenn ich mal ZEIT habe, werde wenigstens mal eine Übersichtsseite dazu zusammenschreiben. Mehr lässt die Freizeit gerade leider nicht zu, Vollzeitberüfstätigkeit, 2 kleine Kinder und ebenfalls berufstätige Gattin. Diese Zeilen schreibe ich grad mit Baby im Arm und Kleinkind im Nacken...
Dabei versumpfe ich zusehends in modellfliegeerischer Isolation, denn was die PRAXIS angeht habe ich sehr wenig Austausch mit anderen. Manche meinen, ich sei kurz davor, vollends "überzuschnappen" und vor lauter Theorie das Fliegen zu verlernen. Ich behaupte, dass das schon passiert ist.
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